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Ausflug, Villa Sträuli, 6-28.5.21
Beobachtungen aus dem Stillstand einer nimmermüden Stadt
Als Michael Etzensperger im Frühjahr 2020 sein Atelierstipendium in Berlin begann, hatte er nur wenige Wochen Zeit, um die Stadt in ihrer alltäglichen Dichte zu erleben. Danach kappte das Coronavirus den pulsierenden Energiestrom und brachte das kulturelle Leben weitestgehend zum Erliegen. Was also tun in einer Stadt, von der man sich Anregungen erhofft hatte und die nun auf den ersten Blick nicht mehr als verschlossene Türen und leere Strassen zu bieten hat? 
Der auferzwungene Stillstand führte dazu, dass Etzensperger die erste Zeit seines Aufenthalts hauptsächlich im Atelier verbrachte.
Die Schwermut der Situation ist dem Film „nature is healing“(2020) anzumerken. In ruhigen, detailfokussierten Bildern zeigt der Film Vögel im vermeintlichen Grün der freien Natur, gefilmt aus dem Fenster des Ateliers. Die Tonspur lieferte, passend zur Gesamtsituation, der Künstler Philipp König via Telefon. Der Titel „nature is healing“ nimmt dabei augenzwinkernd auf Medienmeldungen Bezug, die im Frühjahr 2020 anhand spektakulärer Beispiele wie der Rückkehr von Delphinen nach Venedig die schrittweise Heilung der Natur verkündeten. 

Zwangsläufig stellte sich für Etzensperger bald die Frage, wie man die geschlossene Stadt dennoch für sich nutzen, sich erschliessen könnte. Der Künstler entschied sich fürs Spazieren. Vom Atelier in Halensee nach Kreuzberg, durch Schöneberg und Wedding, ziellos, aber mit aufmerksamem Blick durch die Quartiere streifend: Eine Aneignung des Stadtraums in Schrittgeschwindigkeit, stets ausgerüstet mit einer Fotokamera. Aus diesen Streifzügen entstanden mehrere Werkserien, in die der Künstler in dieser Ausstellung Einblicke gibt. 
Die Werke der Serie „Sittich“ (2020) weisen in ihrer Komposition augenscheinliche Ähnlichkeiten auf. Es sind Farbenflächen, teils mit einem feinen Grauschleier überzogen, die sich zu einer – auf den ersten Blick ungegenständlichen – Komposition zusammenfügen. Bei näherer Betrachtung schälen sich jedoch vereinzelt Elemente aus den Flächen: der Flügel eines Vogels, ein Auge, Wasserbläschen in einer Klarsichthülle. Beim Motiv handelt es sich um den vielfach plakatierten Aushang einer Suchanzeige nach einem Wellensittich. Regen und Verwitterung haben die ehemals identischen Drucke unterschiedlich geprägt, unleserlich gemacht und von ihrer ursprünglichen Funktion losgelöst. Wie sollte man einen Kanarienvogel anhand eines solchen Bildes wiedererkennen? 
Einen ähnlichen motivischen Ursprung haben die drei Werke der Serie „Abglanz (Fuchs)“ (2020). Hier dokumentierte der Künstler einen symbolischen Kampf im Stadtraum. Der abgebildete Fuchs – eigentlich Werbemotiv einer Bausparkasse – wurde für den Aufruf zu einer Demonstration zweckentfremdet. Dies wiederum scheint nicht überall auf Gegenliebe gestossen zu sein, sodass mehrere dieser Plakate mit grüner Farbe überschüttet wurden. Das Motiv bannt dergestalt eine kleine Geschichte über Aneignung und Auslöschung von Bildern im öffentlichen Raum.
Die Motive für die Serie „young urban professionals“ (2020, ausgestellt im Café) entdeckte Etzensperger auf grossen Werbeblachen im Stadtraum, die Neubauten in altbekannten Chiffren der Städteplanung anpreisen: Zumeist junge, urban aussehende Menschen wurden dafür eilig in die Visualisierungen der neuen Wohn- und Arbeitssiedlungen eingefügt. Durch Etzenspergers Fokus auf die menschliche Staffage der Architekturwerbung treten die Grenzen der suggerierten Wohlfühlwelt zu Tage: Ösen für die Aufhängung bohren sich durch den Oberkörper einer Frau, der Körper einer Person scheint sich im Balkongeländer aufzulösen. Der Künstler findet mit den verpixelten Figuren in angedeuteten Wohnkontexten ein stimmiges Bild für eine Zeit, in der Menschen zu grossen Teilen aus dem Stadtraum verschwanden und sich im Austausch vermehrt als digitale Abbilder begegneten.
Michael Etzensperger (*1982) wurde in Winterthur geboren. Sein Bachelorstudium absolvierte er von 2009 bis 2012 an der Zürcher Hochschule der Künste im Fachbereich Kunst & Medien, Vertiefung Fotografie. Von 2017 bis 2019 folgte ein Master in Fine Arts an der FHNW Basel. Seine Werke sind unter anderem in den Sammlungen der Stadt Winterthur, des Kantons Zürich, der Zürcher Kantonalbank sowie des Musée de l’Elysée Lausanne vertreten.

Text: Julian Denzler
Lektorat: Nadine Sommer






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